Die Ukraine als Entdeckung
Ich bin Fan von Osteuropa. Einige Jahre habe ich den Schüleraustausch mit Polen organisiert und viele Reisen nach Polen und inzwischen auch in die Baltischen Staaten unternommen. Da mich die Geschichte der europäischen Juden – ihr Leben und die Realität vor dem Massenmord an ihnen – sehr beschäftigt, nahm ich im Jahr 2017 eine Chance wahr, die mich
bis heute nachhaltig bewegt: Eine von dem Osteuropa-Reisespezialisten Hartmut Ziesing organisierte Reise führte in die historische Region ‚Galizien‘. Hartmut Ziesing gestaltete eine unvergleichliche Reise, die viel mehr war als eine Studienreise: Die Begegnungen mit den Menschen vor Ort in Polen und der Ukraine waren geprägt von einem sehr persönlichen Austausch.
Ein komplexer Konflikt
Ab diesem Zeitpunkt war mein Interesse und die Begeisterung auch für die Ukraine entzündet. Die Gespräche mit Betroffenen der de-facto-Annektion der Ostukraine und der Annektion der Krim zeichneten das Bild eines komplexen Konflikts, dessen Kern auch den heutigen russischen Angriffskrieg im großen Maßstab (‚full-scale-war‘) ausmacht.
Die Ukraine ist als souveränes Land durch russischen Einfluss schon bis 2014 regional destabilisiert und 2014 ohne Kriegserklärung von russland mit Hilfe von massiver Kollaboration angegriffen worden.
Trotzdem glaube ich, dass die Ukraine mit politischen Fehlern Verantwortung in Bezug auf die gesellschaftliche extrem schwierige Situation in der Ostukraine trägt. Nur: Konnte man nach rund 80 Jahren ukrainischem Ringen um Souveränität, mit dem Holodomor als furchtbarsten Tiefpunkt der Sowjetherrschaft, irgendetwas ‚besser‘ machen?
Als Exil-Bochumer habe ich das Schicksal der Bochumer Partnerstadt Donezk nach 2014 näher verfolgt.
Meine Beziehung zu russland*
[*solange die russische föderation ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, schreibe ich russland betreffende Substantive klein. Ich verstehe jeden Menschen in der Ukraine, der jetzt die russische Sprache vollständig ablehnt]
Meine Beziehung zu russland ist einfach erklärt: Obwohl ich familiäre Bindungen in die USA habe, werde ich die Staaten erst dann wieder besuchen, wenn ich alle europäischen Hauptstädte bereist habe – und moskau.
Der Kult, den der Präsident der russischen föderation aufgebaut hat und dem manche deutschen, die Geschichte und die Politik völlig ignorienden Zeit-Genossen folgen, ist mir fremd.
russland teilt aber auf Ebene der Menschen mit vielen osteuropäischen Staaten die Großherzigkeit und eine besondere Besinnung auf eine volkstümliche Kultur. Dass Letztere in russland zu nationalistisch-imperialistischen Einstellungen mutiert ist, kann ein Deutscher vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Perversion deutscher Kultur der Kulturen in Deutschland nur zu gut verstehen: Totalitäre Propaganda wirkt.
Die Ukraine im Krieg – und nun?
Wenige Wochen nach der Invasion Tausender Soldaten der russischen föderation und der einsetzenden massiven Fluchtbewegung der ukrainischen Bevölkerung bewegte mich von Tag zu Tag mehr die Frage, wie ich helfen könnte: Gibt es etwas, das ich neben der – wie ich finde – typisch deutschen Hilfsbereitschaft, die sich auf ankommende Flüchtlinge bezog, leisten könne?
Ich kontaktierte die alte Ukrainereise-Gemeinschaft von Hartmut Ziesing mit dieser Frage, erfuhr von dem gleichen Entsetzen über die Situation, und der Unterstützung, die die ehemaligen Mitreisenden persönlich leisteten.
Meine Entscheidung: Spenden an die großen Organisationen wie UNICEF, ‚Deutschland hilft‘ und andere. Und vor allem über Telegram den Draht zu Informationen über die Situation in der Ukraine sehr eng halten.
Die Suche und deren Ende
Im Frühjahr 2024 vollzogen sich zwei persönliche Schritte parallel: Der Abschied aus der Existenz als verbeamteter Lehrer in einer schier unerträglichen Arbeitssituation, und die Suche nach einem Projekt vor Ort in der Ukraine.
Ein solches Projekt zu finden und letztlich selber eines zu organisieren, ist eine eigene, längere Geschichte. Anfang Juli 2024 aber ist ein Herzensprojekt mit der Organisation in meiner Verantwortung mit Hilfe von aufgeschlossenenen Menschen und vor allem meinen ukrainischen Lehrerkolleginnen tatsächlich realisiert:
Den Projektbericht hat das Lyceum No. 2 in Drohobych hier bei Facebook veröffentlicht.
Der Projektbericht
Ein Schulprojekt zu Zeiten des Krieges
In Friedenszeiten haben Schulprojekte wie der internationale Jugendaustausch ganz verschiedene Themen: Kulturelle Begegnung, Geschichte, Demokratie, Natur- und Umweltschutz, Musik und Kunst.
Welches Thema kann ein Schulprojekt haben, das in einem Land stattfindet, das sich im Krieg befindet? Die Ukraine ist jeden Tag mit der grausamen Realität des Krieges konfrontiert, und selbst weit von der Front entfernt findet das Leben der Menschen hier im Ausnahmezustand statt. Wie also kann man ukrainische Kinder und Jugendliche erreichen? Welches Thema beschäftigt sie?
Die kurze Antwort lautet: Die Zukunft! Und zwar die ganz praktische Zukunft. Wenn der Krieg zu Ende sein wird, sind große Landstriche der Ukraine verwüstet. Der Kriegsterror richtet sich gegen Schulen, Wohnhäuser, Kirchen, Einkaufszentren, Sportstätten und Bauwerke der Energieversorgung wie den Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka.
Wir bauen die Zukunft!
Damit war das Thema des Projektes bestimmt: Wir bauen die Zukunft der Ukraine – als Baumeister und Architekten!
Unter den schwierigen Bedingungen, unter denen in der Ukraine Schule seit Beginn des Krieges stattfindet, fanden sich vierzehn Schüler (tatsächlich Jungen), die mit großer Motivation ihre Ideen für den Wiederaufbau der Ukraine in kleinen Modellen realisierten.
Kreativität und berufsorientierende Aspekte der deutschen Sprache
Die Modelle wurden mit einfachsten Mitteln, ungeachtet dessen aber mit einem fachlichem Anspruch erstellt. Allein wegen der fehlenden Elektrizität waren wir im Vergleich zum Technik-Unterricht in Deutschland deutlich eingeschränkt, und trotzdem gestalteten die Schüler eigenständige und ausgesprochen kreative Werkstücke und nutzten die verfügbaren Werkzeuge und Materialien.
Die Schülerinnen und Schüler des Lyzeum No. 2 lernen die deutsche Sprache auf einem sehr hohen Niveau. Es fühlt sich dann aber doch wie ein Abenteuer an, wenn man plötzlich mit einem Muttersprachler, dem Techniklehrer aus Deutschland, kommunizieren muss.
Um ein technisches Projekt umzusetzen, ist man auf Fachsprache angewiesen. Und für die Jugendlichen ist die Berufsorientierung noch lange nicht abgeschlossen, deswegen war es ein Anliegen der Lehrkräfte, auch im Hinblick auf Berufe, Werkzeug, Material und Tätigkeiten die deutsche Sprache einzubinden.
Persönliche Worte
Das Ziel dieses Schulprojektes war, praktische Solidarität mit Menschen zu zeigen, die sich mit dem Krieg konfrontiert sehen und sich den Frieden in Freiheit wünschen.
Es wurde realisiert ohne offiziellen Schulkontakt, aber mit persönlicher Unterstützung durch sachbezogene Geldspenden deutscher Lehrkräfte, über eine Entfernung von 1.500 Kilometern, ohne persönliche Bekanntschaft und einem praktischen Engagement – in der Ukraine und in Deutschland neben der vollen Unterrichtsverpflichtung der beiden Lehrkräfte Frau Oksana Dyakiv und Herrn Daniel Rohde-Kage an ihren Schulen.
Möglich wurde dies nur durch die Hilfsbereitschaft und persönliche Offenheit von Herrn Christoph Jeggle (Zentralstelle für das Auslandsschulwesen vom Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten) und Herrn Dr. Christian Lichtenberg, die den Kontakt zum Lyzeum No. 2 in Drohobych vermittelten.Der allergrößte Dank geht aber an meine ukrainische Kollegin Oksana Dyakiv für ihre großartige Hilfe, ihre offenherzige und verbindliche Unterstützung. Persönlich vom Krieg betroffen, stehen doch ihre Schüler im Mittelpunkt ihres Engagements.
Sehr dankbar bin ich auch Frau Schuldirektorin Pankewytsch, die die Türen ihrer Schule für dieses Projekt weit öffnete, und meiner Kollegin Halina Dzhura für die Unterstützung als Sprachlehrerin und den persönlichen Austausch.
Meinen allergrößten, herzlichen Dank dafür!
Ich werde alles dafür tun, dass es ein weiteres Projekt gibt. Und ich wünsche der Ukraine – vor allem ihren Kindern – Frieden und die Zukunft, die sie selber in Freiheit gestalten.
Daniel Rohde-Kage